Betrachtungen zum Prozeß Buschhof

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Autor: Paul Nathan
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Titel: Xanten-Cleve
Untertitel: Betrachtungen zum Prozeß Buschhof
aus: Separat-Abdruck aus der Nation, Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur, Berlin 1892
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Hermann
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Erscheinungsort: Berlin
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Kurzbeschreibung: Bericht über den Xantener Ritualmordvorwurf von 1891/92 aus der Perspektive eines in der Tradition des Humanismus und der Aufklärung stehenden Autors, der den zentralen Prozess gegen den jüdischen Schächter Adolf Buschhof beobachtet hat.
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Xanten-Cleve.

Betrachtungen zum Prozeß Buschhof

von

Dr. Paul Nathan.

Separat-Abdruck

aus der

„Nation“, Wochenschrift für Politik, Volkswirthschaft und Litteratur


|[1]      Xanten – es liegt so schön. Im Grünen versunken, umgeben die schmucken kleinen Häuser den mächtigen Dom, die gothische Victorkirche, die gewaltig aufragend eines der ernsten, denkwürdigsten Bauwerke des Mittelalters am Niederrhein ist. Wenn man auf dem sanft ansteigenden Fürstenberg steht und die Landschaft überblickt, grüne Baumgruppen, kleine Waldflecken, Gehöfte und Dörfer, sanfte Hügel und weite ebene Flächen, durch die der Rhein breit und stahlig-grau zieht, und wenn dann das Auge immer wieder von den mächtigen Massen des Domes gefesselt wird, dem bedeutendsten Punkt des Bildes, so scheint die beherrschende Gewalt des Mittelalters wie in einer leibhaftigen Verkörperung dazustehen.

     In den großen Städten gehen selbst gewaltige Kirchen in dem Häusermeer unter, das sie umschließt, und der Wald von ragenden Fabrikschornsteinen in den Vororten ist stets charakteristischer als die wenigen Kirchthürme, die kaum aus den Dächern sich hinausarbeiten. Draußen im Lande ist die Kirche für das Dorf noch das, was sie einst gewesen ist, und der Dom erscheint wie der Herrscher einer ganzen Gegend. Um ihn schmiegen sich die kleinen Wohnungen der Menschen; er ist die Großthat weiter Gebiete und zahlloser Geschlechter; die Kultur leistete hier das höchste, was sie vermochte, und wie die tiefsten Gedanken über das Diesseits und Jenseits das Werk erschufen, so lebte dort auch die Macht, die diesseits und jenseits gebietend richten wollte. So war es im Mittelalter – vor tausend Jahren, als wilde Normannenschaaren die Kirche des heiligen Victor zerstörten – die ecclesiam s. Victoris mirifico opere constructam, von der die Annales Xantenses des Jahres 864 berichten –, so war es, als immer auf den alten Fundamenten nach Brand und Krieg langsam der heutige Bau entstand, als dann der magister scholarum Bertholdus im zwölften Jahrhundert schuf, und als aus romanischen Resten Jahrhundert auf Jahrhundert neugestaltet wurde, bis mit der beginnenden modernen Zeit die letzte Hand hoch oben an den gothischen Thürmen und am Dache angelegt war.*)[1]

     Da der Bau vollendet stand, war Amerika entdeckt und hatte Luther mit kühner Hand an einer anderen Kirchenthür seine verwegenen Thesen angeschlagen. Eine neue Zeit zog herauf und die alte schien vernichtet.

|[2]      Als ich in Xanten zwischen Schweinekoben und Kuhraufe mich in halber Dämmerung mühsam hindurchschob, um in eine weite, durch wenige trübe Scheiben matt erhellte Scheune zu gelangen, wo ein armes kleines Kind mit durchschnittener Kehle vor länger als einem Jahre todt aufgefunden worden war, in jenem Augenblick fragte ich mich, ist das Mittelalter vernichtet? Und diese Frage verfolgte mich, als ich in Cleve Tag für Tag ein und eine halbe Woche hindurch Richter und Staatsanwälte und Vertheidiger in ihren schwarzen Roben sah und das ganze Heer der Zeugen hörte, die verhandelten, ob ein gebeugter, halbtauber, weißhaariger Jude mit milden Gesichtszügen ein Kind umgebracht habe aus einem Motiv, das die Anklage nicht nannte, weil sie keines gefunden hatte, das aber außerhalb des Gerichtssaales um so lauter verkündet wurde. Es war das Jahr 1892 und in Preußen wurde über den „jüdischen Ritualmord“ oder delikater ausgedrückt über den „jüdischen Blutmord aus Aberglauben“ verhandelt.

     Du lieber Himmel! Die Natur macht keine Sprünge; wir haben es weit gebracht, und mit berechtigtem Stolz sehen wir auf das Mittelalter zurück; die Dämonen jener Zeit herrschen nicht mehr, aber – man muß es eingestehen – todt sind sie nicht, und die Frivolität hat einen neuen – nicht völlig geglückten – Versuch gemacht, sie zu entfesseln.

* * *


     Ob ein Jude eines Mordes überführt wird, ob er sich als schuldlos ausweist, das würde niemals jene Aufmerksamkeit erregt haben, die die Verhandlungen in Cleve mit Recht in Anspruch nehmen durften. Keine Verdunklung wird jetzt die Thatsache beseitigen, daß es sich in Cleve nicht um einen Angeklagten gewöhnlichen Schlages gehandelt hat; nicht eines der hergebrachten Motive, auch nicht Aberglaube konnte jenem Prozeß die Bedeutung verleihen, welche er hatte. Die „Germania“ und die „Kreuz-Zeitung“ finden es heute zwar anmaßend, daß die Juden nicht zugeben wollen, einer der Ihrigen könne aus Aberglauben morden, wie ja gleiche Thaten auch von Christen erwiesen seien; allein diese Möglichkeit, die nach der Niederlage konstruirt wurde, leugnet theoretisch kein Verständiger. Jede Abirrung der menschlichen Natur wird bei einem Juden unter Umständen sich finden lassen, das ist zweifellos, und diese Erscheinung würde im gegebenen Falle daher auch keine erregten Debatten hervorzurufen im Stande sein. Doch so lautet die Frage nicht. Eigenartig, von kulturhistorischer Bedeutung wurde dieser Prozeß, weil sein Ausgang ein Beweis sein sollte, ob es neben den Abirrungen der menschlichen Natur, noch besondere Abirrungen der jüdischen Natur gebe; ob Stammeseigenthümlichkeit, ob Religion, ob beides die Juden zu besonderen Verbrechen treibe.

|[3]      Der Haß gegen die Juden hat sechshundert Jahre hindurch diese Behauptung, unter der auch einmal die Christen vom Römerthum zu leiden hatten, immer wieder aufgestellt; in den unteren Schichten des Volkes lebt derartiger Argwohn noch heute; bei dem gutgekleideten Pöbel hat er Anhänger, und diese geistig tiefstehenden Schichten, die dem Fanatismus und dem Aberglauben zugänglich sind, wurden von der politischen Gewissenlosigkeit so lange gestachelt, bis ihnen der Prozeß gegen einen Juden als ein Prozeß gegen das Judenthum erschien und nicht gegen dieses allein. Waren die Juden schuldig, so waren auch alle jene Helfershelfer – wissentlich oder unwissentlich – , die das Judenthum gegen derartige Vorwürfe stets in Schutz genommen hatten. Die Anklage richtete sich somit gegen das Judenthum und gegen die, welche man auf der Seite der Antisemiten „Judenknechte“ nennt; das sind nicht allein die Liberalen, aber die doch in jedem Falle. Erst durch diesen umgebenden Rahmen wurde der Prozeß zu dem, was er war; zu einer gerichtlichen Prozedur, welche die Behörden mit heißem Bemühen ausschließlich als eine Anklage wegen Mordes zu charakterisiren suchten, und in die doch unaufhörlich politischer und religiöser Fanatismus, die Sachlage verrückend, eingriff. Der Kriminalfall war zu einem politischen und kulturellen Prozeß geworden, und wäre der Angeklagte schuldig gewesen, so würde der Wahrspruch der Geschworenen unzweifelhaft mißbraucht worden sein, um den reaktionären, antisemitischen Tendenzen Vorschub zu leisten.

     Was unter diesen Umständen bei dem Prozeß auf dem Spiele stand, ergibt sich mit Deutlichkeit. In Cleve kämpfte wieder einmal die fortgeschrittene Kultur des deutschen Volkes mit den geistig und sittlich zurückgebliebenen Elementen der Nation.

     Daß dieser Kampf einen guten Ausgang genommen hat, ist ein Glück, welches dem Umstande verdankt wird, daß der Antisemitismus sich für seine Verleumdungen ein gänzlich untaugliches Objekt gewählt hatte. Aber welche Gefahren der Antisemitismus für die Kultur haben kann, wurde dem betrachtenden Geiste durch diesen Prozeß erschreckend nahe gerückt. Man denke an die Folgen, wenn die Unschuld des Angeklagten sich weniger klar erweisen ließ, als es möglich war; man denke, welche fanatische Erbitterung die erlogenen Ausstreuungen über die Voruntersuchung erzeugt haben, welche Verdächtigungen gegen die Justizverwaltung, den Justizminister und den Minister des Innern unter die Bevölkerung gebracht worden sind. Hatten Ahlwardt und seine Helfershelfer das Heerwesen zu diskreditiren erstrebt, so diente dieser Prozeß den nämlichen Elementen zu dem Versuche, die Justiz zu terrorisiren. Weit genug ist der Versuch gediehen.

     Die Gesammtheit dieses Strebens muß man zusammenfassen, um zu würdigen, welche gefährdete Lage hierdurch für unsere politische und kulturelle Entwicklung geschaffen ist.

|[4]      Und wer ist es nun, der die Errungenschaften, die wir besitzen, wieder in Frage zu stellen sucht? Scheinbar allein eine Schaar skrupelloser Menschen ohne jedes geistige Prestige und ohne jedes moralische Ansehen, die sich an die Spitze der Dummheit und Rohheit gestellt haben; aber doch nur scheinbar. Dieser Haufen hätte in jenem düstern Winkel bleiben müssen, in den er gehört, ohne die halbe Connivenz, ohne die Schwäche, ohne das Gewährenlassen weiter Kreise der Bevölkerung, die zu einem lauten Protest bei Zeiten verpflichtet gewesen wäre. Erst durch diese Mitschuld und diese Passivität wurde der Antisemitismus zu dem, was er ist, zu einer großmäuligen Macht, die mit ihren Verdächtigungen vor keiner Schranke Halt macht, und der es thatsächlich gelungen ist, einen Prozess à la Tisza-Eszlar zu inszeniren, dessen Ausgang durchaus nicht wunderbar ist, aber an dem es verwunderlich ist, daß er je beginnen konnte.

* * *

     Die Ereignisse sind in Kürze die folgenden: Am Abend des 29. Juni 1891 fand eine Kuhmagd, als sie Stroh aus der Scheune holte, den kleinen Knaben Hegmann dort todt mit durchschnittener Kehle. Eine klaffende Wunde fand sich am Halse, und es glaubten in dem Halbdunkel der Scheune und in der Aufregung der ersten Besichtigung die Anwesenden Blut nicht gesehen zu haben. Als der Xantener Arzt Dr. Steiner hinzukam, schien auch ihm, daß das wenige Blut, welches er erblickte, nur einer „Nachblutung“ entstammen könne, und er nahm daher an, daß Fundort und Thatort nicht zusammenfielen, daß der Knabe nicht an der Stelle, wo er lag, auch den tödtlichen Schnitt erhalten habe.

     Das Verbrechen gegen ein schuldloses Kind, das angebliche Fehlen des Blutes, die Behauptungen des Dr. Steiner waren für die Bevölkerung ebensoviele geheimnißvolle Räthsel, an deren Lösung sich die Volksphantasie sofort machte. Gegen drei Personen regte sich zunächst der Verdacht; gegen Knippenberg, einen wahnsinnigen Schwager des Hegmann, der mit diesem häufig in Streit war, weil der Verrückte behauptete, daß dessen Besitzthum das seine wäre, und dem man zutraute, in einem Anfall wahnsinniger Rachsucht das Verbrechen begangen zu haben: gerade vor dem Morde hatte ein solcher Zank stattgefunden; gegen einen Steinarbeiter Wesendrup, einen verwegenen Menschen, der wegen Trunksucht am Freitag vor der That von Buschhof entlassen worden war, und der die Drohung ausgestoßen hatte: die Juden sollen keinen Schabbes mehr haben; endlich gegen Buschhof selbst, – warum? – weil diesem gräulichen und geheimnißvollen Morde nur ein gräuliches und geheimnißvolles Motiv zu Grunde liegen konnte, und noch am Abend des 29. Juni tauchte in dem friedlichen Xanten der Verdacht auf, daß hier ein „ritueller Mord“ geschehen sei. Die Feststellungen des Dr. Steiner schienen dieses zu bestätigen.

     Buschhof war zwar als ein trefflicher Mann im ganzen |[5] Städtchen bekannt; alle seine Nachbarn, die schließlich mit größter Festigkeit an seine Schuld glaubten, gaben ihm das beste Leumundszeugniß in öffentlicher Verhandlung – was für die Wahrheitsliebe und Ehrlichkeit der Bevölkerung ein seltenes Zeugniß ist –, aber einen Ritualmord traute man ihm doch zu, denn das ist ja nicht ein Verbrechen, das aus individueller Schlechtigkeit geschieht, sondern ein schreckliches Gebot der Religion, dem sich der einzelne fromme Jude fügen muß.

     Ein paar gewissenlose Hetzer schürten diese Stimmung und nun begann man von allen Seiten Verdachtsmomente zusammenzutragen. Jede Handlung Buschhof’s war dieser erregten Bevölkerung verdächtig, sein ernstes Gesicht, wie sein heiteres; allein direkt belastende Momente fehlten.

     Da kam sechs Tage nach der That ein Arbeiter Mölders, „ein Sonntagstrinker“, der, als er seine Angaben machte, „einen mehr wie gewöhnlich getrunken hatte“, und erklärte, er habe gesehen, wie gegen zehn Uhr Vormittags am Tage des Mordes von zwei vorübergehenden Kindern das eine durch eine Hand, nur diese habe er erblickt, in das Buschhof’sche Haus hineingezogen worden sei. Am 7. Juli erzählte der sechs Jahre alte Stephan Kernder seiner Mutter, er selbst, Peter Venhof und der kleine Hegmann seien vorübergegangen, da sei der Hegmann von einer Hand in das Haus hineingezogen worden; endlich erklärte der kleine Gerhard Heister am 22. Juli, er habe von einem Prellstein aus beobachtet, daß die drei Knaben vorübergingen und Hegmann hineingezogen wurde. Hierzu kam noch eine Aussage des Kutschers Malmann, der angab, er habe am Nachmittag erblickt, wie Hermine Buschhof einen Gegenstand aus dem Hause in jene Scheune trug, in welcher das todte Kind gefunden worden ist. Mehr bedurfte die Phantasie des Volkes nicht, um von der That Buschhof’s überzeugt zu sein.

     Allein beim näheren Zusehen bleibt keine dieser Aussagen bestehen. Nicht eine ist unmittelbar nach dem Morde gemacht worden.

     Mölders gewährt den Eindruck eines ehrlichen, aber trottelhaften alten Arbeiters; es war bezeichnend, daß er sich von den Eltern eine Probe vom Kleide des ermordeten Kindes geben ließ und mit diesem Fetzen auf das Gericht in Xanten ging, um das Kleidchen des todten Hegmann auch erkennen zu können, und seine Frau nannte diese Vorsicht ein „kluges Stück“. Mölders ist ein Mann, der gewiß nicht absichtlich an einer verbrecherischen Irreleitung des Gerichtes sich betheiligt hat, aber der leicht dazu kommen konnte, sich bei dem allgemeinen Geschwätz Dinge einzureden, die entweder sich überhaupt nicht ereignet hatten, oder doch nicht so, wie er später aussagte. Stephan Kernder nun hatte am Tage des Mordes, als man nach den kleinen Hegmann suchte, gesagt, daß der auf der „Clever Straße bei den Kirschen sei“; später soll er seinen Eltern die Sache mit der Hand erzählt haben, aber niemals waren gleiche Aeußerungen vor |[6]Gerichtspersonen von ihm zu erlangen; der Knabe Heister endlich kommt erst ganz spät, am 22. Juli, mit seiner Aussage; und während Heister und Kernder von drei Kindern sprachen, sah Mölder’s nur zwei, und während jene die Kinder in der einen Richtung schreiten lassen, gibt dieser die gerade entgegengesetzte Richtung des Gehens an, und während Kernder und Venhof mit Hegmann zusammen gewesen sein wollen, sagt Mölders: den Kernder könne er nicht gesehen haben: „Dazu sei er viel zu groß“, und ein drittes Kind sei überhaupt nicht dabei gewesen. Was aber sind die Kinderaussagen überhaupt, die so spät kommen! Genau wie im Prozeß von Tisza-Eszlar stellte sich auch hier heraus, daß Kinder nicht das sagen, was sie gesehen haben, sondern das gesehen haben wollen, was sie gehört haben.

     Dies ganze Gebäude fällt nun zusammen, weil Buschhof gerade um 10 Uhr herum und zwar ausschließlich durch mehrere christliche Zeugen bis auf Minuten sein Alibi beweisen kann. Malmann endlich, der am Nachmittag seine wichtige Beobachtung gemacht haben wollte, hatte zuerst vor dem Gericht in Xanten ausgesagt, daß Andere die Hermine Buschhof gesehen hätten; später behauptet er dann, daß die angeblichen Beobachtungen Anderer seine eigenen Wahrnehmungen gewesen seien; er wurde vor dem Gerichtshof in Cleve als ein falsch zeugender, gänzlich unzuverlässiger Mensch von der Staatsanwaltschaft selbst gebrandmarkt. Zum Glück konnte auch Hermine Buschhof für den Nachmittag ihr Alibi erhärten.

     Man mag zugeben, es gab zu einer gewissen Zeit vage Verdachtsmomente gegen Buschhof, die jedoch beim ersten besseren Zusehen zusammenstürzten und die stets äußerst unwahrscheinlich erscheinen mußten, denn schon die Erzählung, daß eine geheimnißvolle Hand sich aus einem Hause streckt, ein Kind ergreift und verschwinden läßt, daß die anderen Kinder nicht schreien, oder stehen bleiben, um zuzusehen, was wird, beides erscheint wie eine lächerliche Erfindung, aber nicht wie Wahrheit; und dies alles an einem Feiertage in einer Straße, wo Haus an Haus sich hinzieht und an jedem Fenster ein Mensch beobachtend sitzen konnte. Genau so absurd, wie in Tisza-Eszlar ist auch diese Erzählung; sie ist das Produkt der Phantasie beschränkter und bornirter Menschen.

     Buschhof, der angebliche Verbrecher, welcher durch zahlreiche christliche Zeugen erweist, daß er am Vormittag auf dem Markte mit den die Kirche verlassenden Bauern sich besprach, daß er am frühen Nachmittag an der Pumpenkirmeß Theil genommen hat und daß er später Kegel mit seinen bäuerlichen Freunden schob, dieser ausgezeichnet beleumundete Mensch mußte also zwischen feiertäglichen Beschäftigungen und Vergnügungen einen scheußlichen Mord begangen haben mit einer Schnelligkeit und mit einer Seelenruhe, wie ein anderer Mensch eine Zwischenakts-Cigarette raucht.

* * *

|[7]     Daß man in Xanten Buschhof allmählich für den Thäter hielt, ist um so begreiflicher, als selbst der katholische Geistliche des Ortes, der Kaplan Bresser, nichts that, die Bevölkerung aufzuklären, vielmehr ganz, wie der katholische Geistliche in Tisza-Eszlar, Adamovics, auch seinerseits zum wenigsten kritiklos, alle jene Momente zusammentrug und durch sein Blatt den „Boten für Stadt und Land“ verbreiten half, die Buschhof zu belasten schienen. Es war natürlich, daß unter diesen Umständen der Fanatismus einen außerordentlichen Grad erreichte. Schon in der Nacht vom 24. zum 25. Juli vergangenen Jahres wurde dem Buschhof sein Haus demolirt; am 25. Juli erhielt dann die Behörde einen anonymen Brief, in dem es hieß:

     „… Trifft das Gesetz nicht bald ein, das dieser der That ja bewiesener Jude verhaftet wird, so werden wir Xantener Bürger durch Blut oder Feuer verstehen, daß die Judenbrut vertilgt wird … Möge doch diese verhaßte Brut in allen Städten des Rheines vertilgt werden, dazu muß vorgeschritten werden … Wird diese Beschwerde auch in den Papierkorb wandern, so sagen wir Alle, bald wird Unerhörtes geschehen …“

     Am 27. Juli rief man Ullenboom, einem der Entlastungszeugen, zu: „Rother Hahn auf dem Dach“, – „Nehmen Sie sich in Acht“. Die Zeugen wurden terrorisirt, fanatisirt, und das heute gänzlich vernichtete Haus von Buschhof beweist, welche Wirkungen die guten Lehren hatten. Unter diesen Umständen ist es noch ein Wunder, daß die Alibizeugen von Anbeginn an fest blieben, und das ist ein Gegensatz zu Tisza-Eszlar.

     Diese Ereignisse haben sich in Preußen im Jahre 1892 abgespielt, und in Preußen konnte auch die immer von Neuem wiederholte Demolirung des Buschhof’schen Hauses ungehindert geschehen.

     Die Erregung in Xanten bei einer ungebildeten Bevölkerung, woselbst sogar der Geist vieler „Gebildeten“ in abergläubischen Vorstellungen befangen war, ist traurig; verbrecherisch war es, daß sogleich Agitatoren, große Zeitungen und dann auch Parlamentarier das vage Ortsgerede ohne Prüfung und ohne Gewissensbedenken zu einer politischen Aktion verwertheten. Aus der Fülle des Materials seien zur erneuten Kennzeichnung dieser Klasse von „Politikern“ nur einige wenige Proben angeführt.

     Die „Westfälische Reform“ schrieb:

     „Wir bezichtigen ihn (Buschhof) hiermit öffentlich des Mordes und zwar des rituellen Mordes“.

     Am 10. Januar 1892 war im „Volk“ des Herrn Stöcker zu lesen:

     „Buschhof, der stets frech leugnete, mußte endlich gestehen, den geschächteten Knaben Joanchen Hegemann noch wenige Stunden vor der Auffindung der entbluteten kleinen Leiche auf grausame Weise in seinem Schlachthause gezüchtigt zu haben.“ ..

     Alle diese Angaben sind erlogen; es gibt kein solches Geständniß; dann heißt es an anderer Stelle desselben Blattes:

     „Weshalb dies sonderbare Schweigen, dies Herumhacken auf dem Antisemitismus, der diesen „rituellen“ Mord natürlich erfunden haben |[8] soll? Oder soll der Skandal Bleichröder, der doch einem unerhörten Rechtsbruch gleichkommt, etwa in Cleve und Köln ein würdiges Seitenstück erhalten?“…

     Am 15. Januar stand in dem nämlichen Stöcker’schen „Volk“.

     „Es würde zu weit führen, wollten wir hier alle die Belastungsmomente zusammenstellen, welche die Schuld Buschhof’s unwiderleglich darthun.“ …

     In der „Staatsbürger Zeitung“, in der „Germania“, in der „Kreuz-Zeitung“ waren die gleichen oder verwandte Dinge zu lesen; in der „Kreuz-Zeitung“, dem staatserhaltenden Blatte, waren am 20. Januar sogar die Sätze zu finden:

     „Nebenbei aber treiben sich hier (in Xanten) in Cleve und Mayen, unter anscheinend amtlicher Maske, aber unzweifelhaft im Auftrage der Synagoge, allerlei Personen umher, welche ebenfalls bei der Entgleisung des Verfahrens mitgewirkt haben. Ueber diesen Punkt und über den Verkehr des Rabbiners in Crefeld mit dem Oberstaatsanwalt in Köln und andern Personen in Cleve sollen gelegentlich noch weitere Enthüllungen folgen.“

     Diese Hetze gegen die Justiz in antisemitischen und reaktionär-konservativen Zeitungen wurde durch Versammlungen, sogenannte „Entrüstungsversammlungen deutscher Männer“ fortgesetzt; bei denselben fehlte begreiflicherweise unter anderen der Oberlehrer Dr. Förster nicht; er sprach am 19. Januar in den Germania-Prachtsälen zu Berlin, wie die „Staatsbürger Zeitung“ berichtet. Schließlich greift die Bewegung auch auf das Parlament über. Wenn derartiges erörtert wird, ist Herr Stöcker dabei; er sagte im preußischen Abgeordnetenhause am 9. Februar, als die Gesammtheit dieser Vorkommnisse erörtert wurde:

     „Erst durch das Drängen der öffentlichen Meinung, durch Volksversammlungen, durch Petitionen, durch eine Bewegung im Volke ist zuletzt die Justizverwaltung darauf eingegangen, die Sache vorzunehmen. Daraus mag Herr Rickert sich auch erklären, daß allmählich die Meinung im Volke aufkommt – der ich widerstehe – daß, wenn es sich um jüdische Angelegenheiten handelt, man die Dinge nachsichtiger behandelt, als wenn das nicht der Fall ist. (Sehr richtig! rechts.)“

     Und er fügt hinzu:

     „Meine Herren, daß an diesen Fällen, die ich bezeichnet habe, diese Anschauung einen gewissen Anlaß findet, kann ich allerdings nicht leugnen.“

     Der konservative Abgeordnete Wackerbarth endlich, der stets dort zu finden ist, wo unerwiesene und ganz falsche antisemitische Behauptungen sich aufstellen lassen, sagte ebenfalls im preußischen Abgeordnetenhaus und zwar am 20. März:

     „In Xanten sehen wir einen des Mordes verdächtigen Menschen, dem keinerlei Entlastungsmaterial zur Seite steht.“

     Man denke, keinerlei Entlastungsmaterial! Dann findet sich in der nämlichen Rede der Ausspruch:

     „Die Solidarität des gesammten israelitschen Volksstammes tritt uns hier wie in allen politischen Fragen als eine Macht entgegen, und speziell in diesem Falle als eine Macht, die nicht einmal davor zurückschreckt, bei einer Untersuchung eines Verbrechens die Fäden in die Hand zu bekommen.“ …

|[9]     Nichts derartiges ist geschehen; nur erbaten die Juden direkt vom Minister des Innern einen Beamten zur Ermittelung des Sachverhalts – was ein Beweis ihres guten Gewissens war und darum von den Antisemiten zu einem belastenden Moment – umgelogen wurde. Herr von Wackerbarth sagt schließlich noch:

     „Es bleibt die Thatsache bestehen, daß dem betreffenden geschächteten Knaben in Xanten das Blut entzogen worden ist; es bleibt die Thatsache bestehen, daß man nicht nachgeforscht hat, wo das Blut geblieben ist. (Hört! Hört! Im Centrum und bei den Konservativen!)“

     Alle Sachverständigen haben einstimmig bestritten, daß hier eine Wunde vorhanden sei, welche die Merkmale des Schächterschnittes aufweist; alle Sachverständigen, der Kreisphysikus, der Kreiswundarzt, das Medizinalkollegium der Rheinprovinz, die Professoren Köster, Pelman und so weiter erklärten, daß das gefundene Blut, durchaus nicht auf eine Blutentziehung schließen lasse; den vorgetragenen Argumenten schloß sich sogar Dr. Steiner an, und doch behauptet Herr von Wackerbarth unter Zustimmung von Konservativen und Centrum genau das, was nicht der Wahrheit entspricht; freilich konnte er sich für seine Angaben auf „Gutachten“ berufen, die der Kaplan Bresser in seinem Blatte, dem Xantener „Boten für Stadt und Land“ veröffentlicht hatte; sie rühren her von einem Xantener Bader, von einem Xantener Bierbrauer und von einem Xantener antisemitisch agitirenden Viehhändler, der zudem das todte Kind nicht einmal gesehen hatte, sondern nur nach mündlichen Berichten sein gewichtiges Urtheil abgab. Daß gegenüber den Aussprüchen wissenschaftlich gebildeter Männer, zum Theil von größtem Ruf, sich Herr von Wackerbarth auf dieses Xantener Dreimännerkollegium stützt, daß bei diesen Ausführungen Kreuzzeitungs-Konservative und selbst Centrumsleute Beifall klatschen, muß zum bleibenden Gedächtniß festgelegt werden, um die Höhe der Kultur, die Gewissenhaftigkeit und Vorsicht, die in diesen Kreisen herrscht, zu charakterisiren.

     Aus den wenigen angeführten Thatsachen, aus der Haltung der antisemitisch-konservativen Presse, aus den Agitationen in Volksversammlungen, aus den Angriffen im Abgeordnetenhaus ergibt sich mit Deutlichkeit, daß gegen die Justizverwaltung ganz systematisch gehetzt, daß ihre Haltung ebenso systematisch verdächtigt wurde, und daß diese Elemente versuchten, einen Terrorismus auszuüben, um die bei dem vorliegenden Aktenmaterial begreiflicherweise immer zögernden richterlichen Behörden zu Entscheidungen zu drängen, die dem Antisemitismus genehm sein sollten.

* * *


     Daß die Unschuld Buschhof’s nicht so völlig klar, wie sie heute vor aller Augen liegt, dem Untersuchungsrichter erscheinen konnte, der mit allen möglichen belastenden Angaben beständig bestürmt wurde, ist augenscheinlich. Es ist daher nicht verwunderlich, daß der erste Untersuchungsrichter |[10]Brixius am 14. Oktober zu einer Verhaftung der ganzen Familie Buschhof schritt. Allein am 23. Dezember, nachdem alle Thatsachen durchaus aufgeklärt waren, erfolgte wiederum die Enthaftung unter Zustimmung des ersten Staatsanwaltes Baumgard, der seinerseits „mit höherer Genehmigung“ handelte.

     Der Untersuchungsrichter Brixius erwies sich in diesem Prozeß als ein überlegener Geist; er durchschaute schnell die Haltlosigkeit der Anklage; er erkannte sie bald als Kindergeschwätz und Phantasie; er sah die Dinge, wie sie waren, und sein größtes Verbrechen war, daß er sich vor Allem nicht von antisemitischen Agitatoren terrorisiren ließ. Ein solcher Richter mußte beseitigt werden. Wiederum ganz wie in Tisza-Eszlar, gelang es auch in Preußen, diesen Mann durch Agitationen aus seiner Stellung zu drängen. Sein Schwiegersohn war der Vertheidiger; ähnliche Verhältnisse bestehen erwiesener Maßen zwar unangefochten häufig genug, allein in diesem Falle wurde ein preußischer Richter seines Amtes entsetzt, um dem antisemitischen Pöbel eine Voraussetzung für seine Verdächtigungen zu rauben.

     Es sei noch erwähnt, daß auf den Angriff Stöcker’s im Abgeordnetenhause gegen Brixius, dieser einen aufklärenden Brief jenem schreibt. Stöcker verspricht darauf schriftlich eine Berichtigung im Parlament; aber als er wieder über den Fall redet, läßt er wesentliche Theile des Brixius’schen Briefes fort und schließt nach bekannter Gewohnheit, indem er – so erklärte Brixius in öffentlicher Verhandlung – „injuriöse Bemerkungen“ hinzufügt. Das ist der ganze Stöcker.

     Betrachtet man die Daten, an denen die entscheidenden Vorgänge stattfanden, die die Untersuchung von Neuem aufleben ließen, so ergibt sich ein interessantes Tableau:

Am 23. Dezember 1891 war Buschhof aus der Haft entlassen worden. Wüthende Angriffe seitens der Antisemiten auf Justiz und Verwaltung waren die Folge.
Am 6. Februar meldete der Kreisphysikus Bauer, daß ihm eine bedeutende Entdeckung gelungen sei; er habe an einem der bei Buschhof gefundenen Messer mit der Lupe eine Scharte entdeckt, und in kühnen Kombinationen folgerte er, daß diese – nur mit der Lupe zu sehende – Scharte gerade jene Risse im Kleidchen des todten Kindes hervorgebracht habe. Das Medizinalkollegium der Rheinprovinz erklärte diese Behauptung für eine Phantasie; alle anderen Aerzte desgleichen. Als Herr Bauer mit Wortschwall seine Entdeckung den Geschworenen demonstrirte, war es aller Welt deutlich, daß dieser Mann gutgläubig sei, doch augenscheinlich von dem Wunsche beseelt war, eine hervorragende Rolle zu spielen; er ist ein Provinziale mit großen Entdecker-Aspirationen. Allein zunächst lag thatsächlich ein neues Verdachtsmoment vor. Daß freilich Herr Brixius nach seiner bisherigen |[11] Haltung und nach den Ergebnissen der Untersuchung demselben Bedeutung beimessen würde, erschien ausgeschlossen. Was geschah nun?
Im preußischen Abgeordnetenhause drohte dem Minister von Schelling eine Interpellation[2] über den Xantener Fall – das steht fest. Drohte dem Minister eine Interpellation, so drängte jetzt die Staatsanwaltschaft auf den Rücktritt von Brixius.
Am 8. Februar tritt auf Beschluß der Strafkammer Herr Brixius von seinem Posten zurück.
Am 8. Februar wird Buschhof von Neuem in Köln verhaftet.
Am 9. Februar findet im Abgeordnetenhaus die Debatte statt, und Herr von Schelling kann nunmehr erklären, daß Buschhof verhaftet sei und daß ein neues Verdachtsmoment, es ist das Bauersche, vorliege.

     Nicht im Geringsten soll behauptet werden, daß Herrn von Schelling oder die Staatsanwaltschaft eine unberechtigte Voreingenommenheit gegen Buschhof beseelt habe; durchaus nicht. Aber nicht ausgeschlossen erscheint es, daß Herr von Schelling solche Maßregeln der Staatsanwaltschaft angeregt hat, die selbst den allerunbegründetsten Verdacht irgend welcher Begünstigung eines angeklagten Juden beseitigen mußten. Das war ja die Verdächtigung, die allerorten erhoben wurde; und darum so strenge wie irgend möglich. In dieser äußersten Strenge, in dieser Berücksichtigung selbst jener Verdachtsmomente, die in Kurzem in Rauch aufgehen mußten, liegt wahrscheinlich – bewußt oder unbewußt für die betheiligten Personen – die Wirkung, welche die Agitation des antisemitischen Lumpengesindels ausübte. Fügen wir noch zur Vervollständigung des Bildes hinzu, daß der erste Untersuchungsrichter Brixius in öffentlicher Verhandlung erklärte, sein Nachfolger habe ihm gesagt, „er sei in der Zwangslage gewesen, den neuen Haftbefehl gegen Buschhof auszustellen, ohne genügende Kenntniß der Akten“. War die Kenntniß der Akten auch ungenügend, so war doch Buschhof zur Zeit der Interpellation im Abgeordnetenhause wieder in Haft.

     Es treten somit die Motive, die Wirkungen und Gegenwirkungen mit aller nur wünschenswerthen Deutlichkeit zu Tage.

     Buschhof war verhaftet; zu den alten beseitigten Verdachtsmomenten war nur die Bauersche Entdeckung hinzugekommen –, auch diese wurde beseitigt durch das Gutachten des Medizinalkollegiums der Rheinprovinz; allein eine Haftentlassung erfolgte nicht.

     Am 8. April wurde die nunmehr durch den Landgerichtsrath Birck geführte Voruntersuchung geschlossen.

     Die Staatsanwaltschaft erhob die Anklage; allein gegen wen sollte sich diese Anklage richten? Mölders und die Kinder hatten nur einen Arm gesehen; Mallmann wollte Hermine Buschhof, die Tochter, bei einem verdächtigen Gang |[12] am Nachmittag beobachtet haben; die Kinder sprachen wohl auch von einer „Sie“, welche den Hegmannschen Knaben hineingezogen hatte. Höchstens lagen also Verdachtsmomente vor, welche besagten, Johann Hegmann sei im Buschhofschen Hause verschwunden; allein kein Indicium gab es, welches den Thäter bezeichnete, welches die Helfershelfer andeutete. Unter diesen Umständen, nachdem die Sache einmal soweit gediehen war, lag in der Haltung der Staatsanwaltschaft wenigstens Konsequenz, als sie Anklage erhob gegen Buschhof, gegen dessen Frau und Tochter; eigentlich hätte man auch gegen den Sohn Siegmund noch Anklage erheben müssen – einfach gegen alle Bewohner des Hauses.

     Nun erfolgte eine neue denkwürdige Wendung.

     Am 28. Mai dekretirte die beschließende Strafkammer, Kluth, Grütering und Hopmann unterzeichnet, daß der Anklage gegen Buschhof stattzugeben sei; die Ehefrau sowie Hermine Buschhof dagegen

„wurden wegen der Beschuldigung, den Adolf Buschhof bei Begehung des vorbezeichneten Verbrechens wissentlich durch Rath und That Beihilfe geleistet zu haben, in Ermangelung genügender thatsächlicher Belastungsgründe außer Verfolgung gesetzt.“

     Wie ein solcher Beschluß zu Stande kommen konnte, ist schwer zu begreifen; denn da Niemand aussagte, wem der geheimnißvolle Arm, der das Kind angeblich ergriff, zugehört hatte, da Niemand wußte, wer sich weiter mit dem Kinde, wenn es in das Haus gekommen war, beschäftigt hatte, so gab es entweder „genügende thatsächliche Belastungsgründe“ gegen die ganze Familie oder überhaupt gegen kein Mitglied derselben. Die Staatsanwaltschaft, welche sah, daß mit diesem Beschluß ihrer Anklage auch der letzte Schatten einer Begründung entzogen wurde – appellirte – wiederum sachgemäß – an den Strafsenat des Oberlandesgerichts in Köln und dieser bestätigte nunmehr den Beschluß der Strafkammer in Cleve. Ob auch gegen Buschhof die Anklage zu erheben sei, darüber hatte das Oberlandesgericht in Köln nicht zu befinden; aber gegen Frau und Tochter sollte und wurde nunmehr „in Ermangelung genügender thatsächlicher Belastungsgründe“ die Verfolgung eingestellt. Mit Nothwendigkeit scheint sich aus dieser Thatsache zu ergeben, daß das Oberlandesgericht, im Falle ihm auch diese Entscheidung zugestanden hätte, für Buschhof selbst genau so wie für Frau und Tochter erkannt hätte, denn die Indicien ließen sich für diese und jenen ganz und gar nicht trennen, vielleicht sogar konnten Mutter und Tochter belasteter erscheinen, denn ihr Alibi war nicht völlig so schlüssig wie das des Vaters.

     So begann denn am 4. Juli unter gespanntester Aufmerksamkeit und unter größter Erregung ganz Deutschlands ein Prozeß auf Leben und Tod, der eine Basis gar nicht hatte; eine Anklage auf Mord gegen einen Mann, von dem Belastungs- und Entlastungszeugen sagten, er habe einen |[13] musterhaften Charakter, wurde verhandelt, und von dem Motiv zur That schrieb die Anklageschrift, daß sich dasselbe nicht habe „nachweisen“ lassen. Alles schwebte in der Luft, aber die Antisemiten hatten doch erreicht, was sie wollten; ihre gewissenlose Agitation verlangte eine Anklage durch die Staatsanwaltschaft, ein Urtheil durch die Geschworenen; das erhielten sie – nur lautete das Urtheil anders, wie sie gewünscht hatten.

     Beurtheilt man den Prozeß in seinem gesammten Verlauf, so gelangt man zu einem beachtenswerthen Schlußergebniß. Daß die Schuld Buschhof’s sich nach Lage der Akten irgendwie hätte erweisen lassen können, erscheint uns ganz unmöglich; aber durch den Prozeß ließ sich erweisen, daß den Behörden jede Judenfreundschaft durchaus fern gelegen hatte. Die Sachlage war schließlich die, daß die Antisemiten Buschhof und die Behörden anklagten, und der Prozeß nahm nicht den Verlauf, um Buschhof’s Schuld zu erweisen, sondern nur den, um seine und nicht weniger der Behörden Unschuld vor dem antisemitischen, anklagenden Pöbel zu erhärten. Das sind liebliche Zustände in Preußen, und daß der Minister mit rücksichtsloser Festigkeit seinen Beamten ein Rückhalt gewesen wäre, ist nicht gerade zu Tage getreten.

     Es sei noch eine diese Lage grell beleuchtende Thatsache angeführt. Der erste Staatsanwalt musste in öffentlicher Verhandlung zugeben, daß zur nämlichen Zeit, wo er jetzt die Anklage gegen Buschhof auf Mord vertrat, er Vorerhebungen gegen den Arbeiter Wesendrup wegen des nämlichen Mordes fortführen ließ. Man denke sich diese erstaunlichen Verhältnisse: Von der Schuld des auf Mord Angeklagten ist die Anklagebehörde so überzeugt, daß sie während der Verhandlung auf einen anderen der That verdächtigen Mörder fahndet.

     Der Prozeß hatte Folgendes zu Wege gebracht: Ein unschuldiger, ehrlicher Mann saß Monate lang im Gefängniß und schwebte in Todesgefahr; die Justiz wurde durch die Antisemiten gewaltthätig von der Verfolgung jeder Spur, die zur Ermittlung der wahren Thäter hätte führen können, abgedrängt; die ruhige Bevölkerung in Xanten wurde fanatisirt; daß die Haupthetzer in Xanten ein paar falsche Eide geschworen haben, ist evident; die Entlastungszeugen in Xanten wurden terrorisirt, verfolgt, aufs Aeußerste in ihrem Erwerb geschädigt, und es bestand die Gefahr, daß sie unter dem Drucke, der auf sie ausgeübt wurde, schwach wurden, ihr Zeugniß zurückzogen, änderten und dann ein Schuldig ausgesprochen wurde; der Prozeß wurde durch den Vorsitzenden Kluth, der den Wunsch hatte, es aller Welt recht zu machen, so geführt, daß die Antisemiten sich beständig berücksichtigt wähnen mußten; auf anonyme Depeschen, die während der Verhandlungen eingingen, wurden neue angebliche Belastungszeugen lächerlichster Qualität vorgeladen, um nur ja nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, daß irgend ein mögliches Schuldmoment unberücksichtigt |[14] geblieben sei; immer neue Zeugen schleppten die Antisemiten herbei; mit leidenschaftlicher Gewalt drängten sie auf ein Todesurtheil hin; sie versuchten noch zuletzt eine Einwirkung auf die Geschworenen, indem sie denselben aufreizende und verlogene Zeitungsartikel zustellen ließen. Von dieser Seite ist also alles geschehen, um einen Justizmord herbeizuführen, und um dann als Folge eines solchen Mordes eine kleine soziale und politische Katastrophe, wenn möglich, herbeizuführen.

     Und würde nach diesen Agitationen ein Erfolg so ganz undenkbar gewesen sein, wenn nicht Buschhof glücklicher Weise der ruhige Ehrenmann wäre, der er ist, und wenn nicht ein gütiges Geschick es gefügt hätte, daß er über eine ganze Schaar von Alibizeugen verfügen konnte. Hier zeigt sich, an welchen Abgrund uns der catilinarische Antisemitismus herangedrängt hat – an den tendenziös auszubeutenden Justizmord mit seiner Rückwirkung auf das gesammte öffentliche Leben in Deutschland.

     Und vor einer Gesellschaft, die solche Ziele erstrebt und die mit solchen Mitteln arbeitet, rechtfertigt sich der Minister des Innern, der Justizminister und die Justizverwaltung ängstlich mit Worten und Thaten, um von dem Vorwurf befreit zu sein, in sträflicher Nachgiebigkeit judenfreundliche Ziele zu verfolgen. In diesem Punkte liegt das Ungeheuerliche der Situation. Das antisemitische Gesindel, Männer von anrüchigster Moralität, Männer von lächerlicher Kenntnißlosigkeit, Narren, Fanatiker und Schufte terrorisiren erfolgreich die Behörden und die Bevölkerung. Wie wäre das möglich, wenn nicht durch Gewährenlassen, durch Stillschweigen, durch falsche Zurückhaltung, durch Schwäche diese Gefahr sich zu ihrer jetzigen Größe hätte auswachsen können.

     Die bei dem Schlußergebnisse ehrenvolle Festigkeit der Staatsanwaltschaft, die Besonnenheit der trefflichen Geschworenen, die hervorragenden Talente der drei aufopferungsvollen Vertheidiger: Fleischhauer, Gammersbach, Stapper, haben diesmal den Feind abgeschlagen, aber die Flammen, die verderblich an unserem Heerwesen, verderblich an der Justizverwaltung emporzüngeln und die friedliche Bevölkerung schrecken und irreleiten, werden noch Schaden genug stiften, wenn nicht jetzt mit festem Griff die Bevölkerung die frivolen antisemitischen Brandstifter packt und ihnen ihr Handwerk nach Möglichkeit verleidet.

* * *

     Xanten und Cleve ist uralter historischer Boden. Die Xantener Gegend war einer der Stützpunkte der Römerherrschaft; dort waren die castra vetera für zwei Legionen angelegt, deren Ueberbleibsel sich noch aufspüren lassen; dort zeigt man noch ein kleines antikes Amphitheater, in dessen Mitte heute ein christliches Missionskreuz der Gesellschaft Jesu steht; seine Inschrift sagt – kalkulatorisch je nach der Zahl der Vaterunser festgesetzt –, in geordneten Rubriken den |[15] frommen Seelen für fünf Jahre und kürzere Zeit den Ablaß zu. Hier, wo man jetzt katholisch betet, wurde wohl einmal Plautus belacht, und hierhin verlegt die Sage auch den Tod des heiligen Victor, der, wie seine Gefährten, als ein christlicher Märtyrer niedergemacht wurde. Gebeine, die von ihnen herrühren sollen, schaurig mit Gold- und Perlenschnüren umwickelt, sind wirr durcheinander geschoben in der Kirche zu Xanten in langen Glaskästen der Anbetung ausgestellt:

     S. S. Reliquiae Sanctorum 330 de Societate Sancti Victoris qui hic Veritatem Fidei Christi, sui sanguinis fusione confirmarunt. Anno Christi 286.

     In dieser Gegend siegte auch der Bataverfürst Civilis über die Römer, und als der germanische Geist dann frühe Blüthen trieb, da verkündete der Sänger des Nibelungenliedes, daß hier die Stammburg Siegfried’s gestanden habe:

In einer rîchen bürge,
Wîten wol bekant,
Nidene bi dem Rîne:
Diu was ze Santen genant.

     In der anderen Burg zu Cleve, die plump und mächtig sich auf einer Anhöhe über dem Städtchen erhebt und weit in die Lande schaut, wo die Brandenburger zuerst weit im Westen einen bedeutsamen Stützpunkt fanden, spielte sich der Prozeß dieser jüngsten Tage ab; dort saß der arme Buschhof, den man aus Xanten hierher gebracht hatte. An der äußersten Ecke der winkeligen Festungsanlage erhebt sich der Schwanenthurm, den die Volkserzählung mit Lohengrin und Beatrix in Verbindung gebracht hat. Wenn man dann aus dem Sitzungssaal mit seinen ganz modernen Eindrücken über den langen Hof ins Freie trat, ging man vorüber an einem antiken Sarkophag und an Inschriften, die märchenhaft von Julius Cäsar erzählen. Ein paar Schritte weiter, und man war zum Thore hinaus unter Linden, von denen eine wunderbare Aussicht auf das Land mit seinen sanften Linien und seinem sanftem Grün und seinem Sonnenschein sich öffnete; alle Farben von jenem feinen grausilbernen Nebel leise gedämpft und verschmolzen, der gen Holland der Landschaft einen so einzig milden Reiz verleiht. Dort auf einer Bank ließen sich die erregenden Sitzungen des Vor- und Nachmittags überdenken, und die Eindrücke ließen sich einweben in die reichen, weit in die Vergangenheit zurückführenden Erlebnisse dieser Gegend.

     Eines Nachmittags las ich an dieser Stelle den Bericht des Elieser bar Nathan,*)[3] der, wahrscheinlich aus Mainz stammend, in der Mitte des zwölften Jahrhunderts lebte, den Talmud interpretirte und ein Dichter war. Der schrieb, frühere Ueberlieferung weiter berichtend:

     „An demselben Tage traf das Ereigniß die Frommen in Xanten, wo man, gerade als der Sabbath begann, über sie herfiel und sie erschlug. |[16]Einige der dortigen Brüder heiligten den Sabbathtag, während man unter ihnen mordete. Denn wie einer, der Beute findet, sich freuet, so waren sie froh und freudig, unserem Gott zu danken und seinen Namen zu verherrlichen; auch sie heiligten Gott mit ihren Hinopferungen … Keiner von ihnen blieb übrig, außer einigen, die am anderen Morgen verwundet zwischen den Todten gefunden wurden. Alle wurden zu Grabe gebracht.“

     Die Kreuzfahrer hatten die Juden in Xanten erschlagen; das war am 27. Juni 1096. Am 29. Juni 1891, genau 795 Jahre und zwei Tage später, fand man im nämlichen Xanten ein armes Kind mit durchschnittenem Hals, und wieder regte sich der Fanatismus; aber man demolirte nur ein Haus, und man schleppte einen schuldlos verdächtigten Juden nicht weiter, als bis in die Nähe des Schaffots. Das ist gewiß ein Unterschied, und wer will leugnen, daß wir in ganzen 795 Jahren Fortschritte gemacht haben. Der, welcher mehr verlangt, muß sich sagen, daß die Kultur, die in den Höhen so wunderbare Blüthen treibt, in den Tiefen nicht schneller sich ausbreitet, und daß der Kampf gegen die ewig gefahrdrohende, ewig wuchernde Unkultur nicht einen Tag ruhen darf.

     Cleve, 16./17. Juli.                         P. Nathan.


Druck von H. S. Hermann in Berlin.


Fußnoten

  1. [Fußnote S. 1:] *) Vergl. die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. I. Ganz neuerdings erschien Abth. III: der Kreis Moers: im Auftrage des Provinzialverbandes der Rheinprovinz von P. Clemen. Düsseldorf. L. Schwann. 1892.
  2. [Interpellation meint eine förmliche Eingabe an die Regierung. Wikipedia-Artikel: Interpellation]
  3. [Fußnote S. 15:] *) Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge von Neubauer und Stern, Berlin, L. Simion 92.