- ) [Nur wenige Worte sollen die Aufnahme der Lais in die Normannische Bibliothek rechtfertigen.
Als ich 1879 meine Sammlung eröffnete, glaubte ich noch an den von
Gaston Paris (Vie de saint Alexis S. 42) aufgestellten Satz : ’La Neustrie,
composée… de l’Ile-de-France et de la Normandie, a eu originairement
un seul et même dialecte : ce n’est qu’à une époque qui n’est pas antérieure
au XII" siècle que se sont manifestées entre le langage des Français et
celui des Normands certaines différences.’ Seitdem haben mich die Arbeiten
Joret’s über die Volksmundarten der Normandie — ich nenne diese die
Normandischen Mundarten im Gegensatze zu der bisher Normannisch
genannten Schriftsprache — und das Studium Französischer Urkunden des
13. Jahrhunderts, die ich dank den Angaben der Herren Leopold Delisle
und August Molinier ans allen Teilen der Normandie besitze, überzeugt
dass das Normannische niemals eine Volksmundart der Normandie gewesen ist.
Das Anglonormannische hat sich erst nach dem Jahre 1066 von dem
Normannischen abgezweigt, und wenn sie sich auch in einigen Punkten
seitdem in gleicher Richtung entwickelt haben könnten, führt doch die
Uebereinstimmung der beiden Idiome fast durchweg auf den Zustand der
Sprache in der Mitte des 11. Jahrhunderts zurück. Wir müssen für diesen
Zustand die Uebergänge von cambre in chambre und von lieit in lit als
bereits vollzogen ansehen. War aber vor 1066 das Gebiet dieser Sprache
im wesentlichen das alte Neustrien, so ergiebt sich, da chambre den Norden
und lit den Westen ausschliesst, und da selbst Fécamp, Rouen und Evreux
neben lit noch cambre sagen, dass die gewöhnlich als Normannisch bezeichnete Sprache nur im östlichen Neustrien, nur in Ile de France, mit
der Volksmundart zusammenfallen konnte.
Wace schrieb weder die Mundart von Jersey, woher er gebürtig war,
noch die von Caen, wo er lebte und das er, nach den Handschriften zu
schliessen, mit den Parisern Chaem schrieb ; seine Sprache ist eine Schriftsprache, die vor den Anfängen der Normannischen Litteratur als Hof- und
Verkehrssprache existiert haben wird, wie das Dreg Proensal vor den
ältesten Troubadourgedichten. Folglich, wenn zwischen Wace und Marie
de France mundartliche Unterschiede so gut wie fehlen, so dürfen wir
daraus nicht schliessen, dass in der Normandie und in Francien die selbe
Mundart gesprochen wurde, auch nicht dass Marie, deren Heimat gewiss
ausserhalb der Grenzen des Anglonormannischen Königreiches zu suchen
- ) Aus der ersten Auflage wiederholt.